Tuesday, November 21, 2006

KINDHEIT














Am 13.9.1939 wurde ich in Ragow, Kreis Beeskow in der Mark Brandenburg geboren. 13 Tage nach Kriegsanfang, auf dem Gut meiner Großmutter - 7.000 Hektar, ein Schloß, viele Wälder. 14 Tage vor dem Geburtstermin schickte mein Vater meine Mutter mit einer Hebamme dorthin. Sie überwachte alles, und als die Geburt bevorstand rief sie meinen Vater an, der damals Chefredakteur der DAZ, der deutschen Allgemeinen Zeitung war - darauf rief der Vater seinen guten Freund - den Chefarzt der Charite an, fuhr mit seinem aufgemotzten Steyer zu ihm, holte ihn ab, im Kofferraum lag schon eine Kiste Heydsiek Champagner und raste nach Ragow. Von der Geburt wird erzählt, daß alles problemlos vor sich ging, außer, daß ich nach der Geburt nicht sofort atmete. Der Charite Chefarzt nahm mich an den Beinen, hielt mich hoch, gab mir einen Klaps und die Lunge arbeitete. Auf dem Weg zum Wickeltisch, wo die Hebamme schon wartete, schiß ich den ganzen Boden voll. Die Hebamme übernahm den Rest und mein Vater öffnete die erste Flasche Heydsiek, goß drei Gläser voll und stieß mit meiner Mutter und dem Arzt an.
Meine Urgroßmutter, eine geborene Riebeck, war eine von 10 Töchtern des ehemaligen Steigers Riebeck, der sich zum größten deutschen Braunkohlen Besitzer hochgearbeitet hatte - so wenigstens geht die Sage. Er gab jeder seiner Töchter 1 Million Goldgulden als Mitgift. Mit dieser Mitgift meiner Urgroßmutter wurde das Gut Ragow gekauft. Denn zu der Zeit war es im preußischen Adel Usus, daß der Erste Sohn das Gut erbte, der zweite Offizier wurde und der dritte Pfarrer. Der Herr von Witte, den meine Urgroßmutter heiratete, der war ein zweiter Sohn. Normalerweise hätte er Offizier werden sollen, aber mit der Mitgift seiner Frau konnte er dieses riesige Gut kaufen. Es gab dort unermeßlich viel Wald. Das Herrenhaus war eigentlich eher ein Schloß - vor dem Haus ein runder See mit Schilf und im Sommer Iris und Seerosen. Im Winter liefen die Kinder Schlittschuh oder schleuderten sich mit Schlitten über das Eis. Links vom Haus lagen englische Parks und rechts der landwirtschaftliche Hof, die Kuhställe, die Pferdeställe, die Ochsenställe, die Heuschober, Maschinenhallen, Obst - und Gemüsegärten, Käserei, riesige Misthaufen, sowie das Häuschen des Aufsehers. Ich habe noch den Klang der Mittagsglocke im Ohr - hell, weittragend - die der Aufseher mit dem Klöppel bearbeitete. Die Kühe wurden von 18 Schweizern - so nannte man die Schweizer -, die einen einbeinigen Schemel umgebunden hatten, morgens und abends gemolken - für mich faszinierend zu sehen, wie die Schweizer nach einer leer gemolkenen Kuh aufstanden und mit dem festgebundenen Schemel, dessen eines Bein wie ein Schwanz sich nach hinten reckte, zur nächsten stapften. Es gab Vollblüter zum Reiten, zum Jagen und zum Ziehen der zweirädrigen Dogkarts und der großen Kutschen, mit denen man zum Bahnhof fuhr wenn mal wieder eine Berlin Reise anstand, oder für Besuche in der Gegend. Im Winter in dicke Felldecken eingemummelt und mit verdeckten Kohlenpfannen gewärmt. Sommers gab es oft Fahrten zur Spree oder anderen Picknickplätzen - wo das Gesinde schon alles mit Decken, Geschirr, Essen und Trinken vorbereitet hatte. Kaltblüter arbeiteten auf den Feldern, zogen Wagen, Heuwender, Eggen, Walzen und leichte Pflüge. Die riesigen, aus England importierten Mehrscharpflüge wurden erst von 10 sic! Ochsengespannen gezogen, bis später dann die ersten Raupenschlepper kamen. Damals hat sich dann der Name Schlepper für alle Trecker eingebürgert. Damit man auch hier nicht auf die Annehmlichkeiten der Stadt verzichten mußte, gab es einen tief in die Erde gegrabenen Eiskeller, der das ganze Jahr über große, vom See ausgestochene Eisblöcke bewahrte, mit deren Hilfe zu besonderen Gelegenheiten Eis-Sorbet gerührt wurde.
Was es mit der Essensbereitung auf sich hatte, habe ich eigentlich nie begriffen. Meine Mutter durfte als junges Mädchen nie in der Küche sein , 'tat man nicht', lernte so auch nichts, was ihr später auf der Flucht doch sehr fehlte. Aber warum ich nicht in der Küche zuschauen durfte, mich von den Mädchen verwöhnen lassen durfte, ihren Liedern zuhören durfte - "Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind ....." habe ich nicht klären können. Ich bemerkte nur damals eine ziemliche Aufregung meiner Großmutter und tagelanges Getuschel. Allein durfte ich auch nicht in den Wald, es könnten ja Zigeuner mich finden und stehlen. Allein durfte ich auch nicht in den Wald, es könnten ja Zigeuner mich finden und stehlen. Zum Essen gab's für die Kinder Breie und Marmeladenbrote - Verwöhnen war bei dem preussischen Pietisten vom Teufel. Abhärten gottgefällig. War man dann erwachsen, kam nur Wild und Geflügel auf den Tisch, der Adel aß kein Rind oder Schwein. Vielleicht damit es immer eine Entschuldigung gab statt sich um die Wirtschaft zu kümmern, ständig zu jagen. Wenn größere Einladungen oder Feste anstanden, mußte als zusätzlicher Diener beim Essen der Kutscher antreten - eine Anekdote erzählt, daß dieser beim Auftragen eines riesigen gestürzten Wackelpeters dessen Wackeln und eventuell zu Boden Rutschens mit den Worten "oha, oha brrrrr" zu Verhindern suchte. Natürlich gab es ab und an auch nicht eingeladenen Besuch - Meine Großmutter zog dann den Gotha zu Rate und bei negativer Auskunft mußte der Besuch wieder abziehen.

Den süßen, etwas muffigen Geschmack von warmem Holundersaft spüre ich heute noch auf der Zunge - Halsweh, Husten, Schnupfen, erzeugten große Mengen davon. Viel später in der Schulzeit war ich oft krank - es gab zwar keinen Holundersaft mehr, aber dafür auch viel weniger Klassenarbeiten.

Meine Urgroßmutter war Hofdame am Hof des Kaisers Wilhelm II. Meine Großmutter hatte einen Herrn von Arnim geheiratet - auch ein zweiter Sohn - und mit ihm 3 Kinder gezeugt. Meine Tante Esther, mein Onkel Diedel und meine Mutter.

Auch im Herrenhaus war etwas moderne Technik eingezogen. Geld war durch die Verkäufe von Holz für die Abstützung der Gänge in Kohlengruben reichlich. Die Landwirtschaft dagegen war im Ergebnis immer unsicher. Meine Mutter hörte ihren Vater im Sommer oft zu seiner Frau sagen, und du wirst sehen, der Regen kommt nicht über die Spree, was eine schlechte Ernte bedeutete. Der Absatzmarkt schwankte so sehr, daß das Getreide oft 'auf dem Halm' an Spekulanten verkauft werden mußte, um nur eine geringe Sicherheit zum Überleben zu haben. Erst im dritten Reich wurde ein guter, fester Ankaufspreis garantiert - na ja - so wurden die Junker überzeugt - denn das Auskommen betraf ja nicht nur sie, sondern alle Mitarbeiter mit Familien auf dem Gut für die man sich zutiefst verantwortlich fühlte.
Neben der Beleuchtung durch Gas - später sogar elektrisch - war das Prunkstück ein großer schwarzer Horch, den der Kutscher unter großen Mühen fahren lernte. Man machte Besuche, Auflüge und gelegentlich die abenteuerliche Fahrt nach Berlin. Mindestens zweimal im Jahr. Im November, um in allen Kaufhäusern nach Geschenken zu stöbern - für alle - so auch Gesinde und Landarbeiter mit Familien - eine langwierige Prozedur. Genauestens versuchte sie jedem gerecht zu werden, ob Köchin oder Dienstmädchen, ob Treckerfahrer oder Verwalter, ob Schweizer oder Pferdeknecht. Der Kutscher erzählte später mit leuchtenden Augen oft von diesen Festen, wo im hohen Saal ein mächtiger Weihnachtsbaum stand - über und über mit Lametta, Kerzen und Glas behängt. Allein das einzeln Anbringen des Lamettas beschäftigte mehrere Leute für Tage. Am Heiligabend versammelten sich alle, es glänzte und glitzerte überall, Großvater laß die Weihnachtsgeschichte, die wunderschönen Choräle Paul Gerhards habe ich heute noch im Ohr und dann kam die Bescherung - jeder suchte seinen Platz mit Namensschild und Geschenken. Abschluß war die feierliche Christmette in der Dorfkirche. Das Weihnachstfest und im Herbst Erntedankfeiern zementierten, heute kaum mehr vorstellbar, die Beziehungen zwischen Herrschaft und Abhängigen. Ein alter Bauer, den ich 1990 beim Besuch meiner Heimat des frühen Kindseins sprach erinnerte nur die schöne Zeit auf dem Gut mit der Herrschaft, fand alles was danach passierte nur ärgerlich und widerlich und haßte die nachfolgende Freiheit, die pseudo Freiheit der DDR. Er zeigte mir dann auch das Grab meines Großvaters, der als Junker einfach nur verscharrt wurde - auch ein Grabstein war verboten. Die Menschen im Dorf hatten dieses Grab jahrzehntelang gepflegt. So konnte ich endlich einen Grabstein setzen für ihn, seine Frau und sein Kind. Das war für mich sehr schmerzhaft und tragisch - denn als bei Kriegsende die Russen immer näher rückten floh meine Mutter mit ihren Kindern aus Berlin und besuchte noch einmal ihren Vater in Rittgarten. Er wollte sein Land nicht verlassen, zu tief verbunden war er in seiner Verantwortung mit Gut, Land und Dorf. Es war ja auch in den letzten Kriegszeiten verboten. Gutsbesitzer die flohen wurden sofort aufgehängt. Auch der dringende Wunsch meiner Mutter, ihr auf der Flucht doch wenigstens seine jetzt elfjährige Tochter mit zu geben, wurde abgeschlagen. Als dann die Russen nur noch wenige Stunden entfernt waren, hat er Tochter, Frau und sich vergiftet. Der Bruder seiner neuen Frau, Henning von Treskow, einer der Hauptbeteiligten am Attentat des 20. Juli, war schon gehenkt. In meinem Lebensentwurf, der immer mit der intensiven Frage, woher wir kommen, verknüpft war, fühle ich hier eine besondere Tragik. Viele der Versammlungen der Attentäter fanden auf dem Gut meines Großvaters statt - natürlich ohne sein Wissen. Als das Attentat aufflog, mußte mein Großvater nach Moabit, dem Gefängnis in Berlin und erst nach 6 Monaten wurde festgestellt, daß er wohl nichts gewußt hatte und er kam frei als gebrochener Mann.
Mit 14 Jahren eingestellt träumte der alte Landarbeiter noch heute von dem Menschlichen, der guten Behandlung, den Festen. Das Funktionieren dieser Beziehungen ist heute kaum mehr vorstellbar, doch es klappte. Geld gab es kaum, das Überleben sicherten Deputate an Holz, Getreide, Rüben und wahrscheinlich auch Kartoffelschnaps, der auf vielen Gütern reichlich hergestellt wurde. Diese Strukturen lebten von Traditionen wo jeder seine feste Aufgaben hatte. Die unten arbeiteten und die oben trugen die Verantwortung und Fürsorge. Wenn jemand im Dorf krank war, schickte meine Großmutter einen Arzt und machte mit kleinen Geschenken und Mitgefühl Besuche. Das war man sich ohne zu überlegen der christlichen Überzeugung schuldig. Sicher gab es auch schlimme Herren, doch das war nicht die Regel. Die Tragik liegt eigentlich darin, daß die neue Zeit des Jahrhundert im Sozialen, in der Politik, in der individuellen Freiheit vom Adel nicht erkannt wurde. So wurde man aus falsch verstandener Sorge um Landwirtschaft, Gut und Dorf NSDAP Mitglied oder Sympathisant und ging zu Grunde weil die tradierten Werte sich ins Gegenteil verkehrten.
Die zweite Fahrt war zur Ballsaison, die gleich nach Sylvester begann und erst mit Aschermittwoch aufhörte. Neben den Bällen vergnügte man sich in Theater, Oper und Ballett. Das Ballet war wohl für den älteren Bruder meines Großvaters eine zu große Versuchung gewesen - er 'trieb sich' mit Ballettratten rum statt sein ererbtes Gut zu bewirtschaften. Das war so genierlich im Familienverband, daß ich erst mit 35 davon erfuhr! Für meinen Großvater ein Glücksfall, der nun nach der Scheidung von seiner vermögenden Frau das elterliche Gut übernehmen sollte und tat.

Zurück zur Urgroßmutter - die Riebeckschen Montanwerke entwickelten sich rasant - daraus entstanden dann die IG Farben, aus denen dann Bayer, BASF und Höchst wurden. Nach Kriegende boten die IG Farben Nachfolger 3 % des ehemaligen Wertes als Entschädigung an - meine Großmutter - reich an Aktien - folgte jedoch einem Anwalt, der 10 % forderte und verlor. Damit ging auch der Rest des Vermögens den Bach hinunter. Bargeld, Schmuck und Silber hatte meiner Großmutter auf einer letzten Fahrt mit dem Horch nach Berlin in einem Banksafe deponiert - nach der Teilung lag die Bankfiliale leider im Ostteil und so war alles weg.

Ich habe jetzt mit der Flucht etwas vorgegriffen. Gehen wir zurück zu meiner Kindheit, soweit ich sie noch erinnern kann. Wir lebten in Frohnau, einem Vorort Berlins. Als Chefredakteur mußte mein Vater natürlich den letzten Umbruch - die Seitenzusammenstellung vor Druck - bis Mitternacht begleiten - weiter gab es Empfänge, Einladungen, Oper, Konzerte. Aus den Erzählungen meiner Geschwister entnehme ich, das ich die meiste Zeit von einer - oft nicht sehr freundlichen Kinderschwester betreut wurde. Drei Erinnerungen an meine Mutter zu dieser Zeit sind geblieben - eine wunderhübsche, sanft geschminkte und herrlich duftende Frau beugt sich über mein Bettchen, gab mir den Gutenachtkuß und verschwand - meine Mutter bringt den herrlichen warmen Holundersaft - wir sitzen alle auf dem Bett meiner Mutter und öffnen ein Lebensmittelpaket, das mein Vater - jetzt wieder Kapitän in der Marine, geschickt hatte. Es enthielt unter anderem Ölsardinen, die ich heute noch mag. Meine Schwester aß leider zu viel davon und ihr wurde kotzübel.