Tuesday, November 21, 2006

KINDHEIT














Am 13.9.1939 wurde ich in Ragow, Kreis Beeskow in der Mark Brandenburg geboren. 13 Tage nach Kriegsanfang, auf dem Gut meiner Großmutter - 7.000 Hektar, ein Schloß, viele Wälder. 14 Tage vor dem Geburtstermin schickte mein Vater meine Mutter mit einer Hebamme dorthin. Sie überwachte alles, und als die Geburt bevorstand rief sie meinen Vater an, der damals Chefredakteur der DAZ, der deutschen Allgemeinen Zeitung war - darauf rief der Vater seinen guten Freund - den Chefarzt der Charite an, fuhr mit seinem aufgemotzten Steyer zu ihm, holte ihn ab, im Kofferraum lag schon eine Kiste Heydsiek Champagner und raste nach Ragow. Von der Geburt wird erzählt, daß alles problemlos vor sich ging, außer, daß ich nach der Geburt nicht sofort atmete. Der Charite Chefarzt nahm mich an den Beinen, hielt mich hoch, gab mir einen Klaps und die Lunge arbeitete. Auf dem Weg zum Wickeltisch, wo die Hebamme schon wartete, schiß ich den ganzen Boden voll. Die Hebamme übernahm den Rest und mein Vater öffnete die erste Flasche Heydsiek, goß drei Gläser voll und stieß mit meiner Mutter und dem Arzt an.
Meine Urgroßmutter, eine geborene Riebeck, war eine von 10 Töchtern des ehemaligen Steigers Riebeck, der sich zum größten deutschen Braunkohlen Besitzer hochgearbeitet hatte - so wenigstens geht die Sage. Er gab jeder seiner Töchter 1 Million Goldgulden als Mitgift. Mit dieser Mitgift meiner Urgroßmutter wurde das Gut Ragow gekauft. Denn zu der Zeit war es im preußischen Adel Usus, daß der Erste Sohn das Gut erbte, der zweite Offizier wurde und der dritte Pfarrer. Der Herr von Witte, den meine Urgroßmutter heiratete, der war ein zweiter Sohn. Normalerweise hätte er Offizier werden sollen, aber mit der Mitgift seiner Frau konnte er dieses riesige Gut kaufen. Es gab dort unermeßlich viel Wald. Das Herrenhaus war eigentlich eher ein Schloß - vor dem Haus ein runder See mit Schilf und im Sommer Iris und Seerosen. Im Winter liefen die Kinder Schlittschuh oder schleuderten sich mit Schlitten über das Eis. Links vom Haus lagen englische Parks und rechts der landwirtschaftliche Hof, die Kuhställe, die Pferdeställe, die Ochsenställe, die Heuschober, Maschinenhallen, Obst - und Gemüsegärten, Käserei, riesige Misthaufen, sowie das Häuschen des Aufsehers. Ich habe noch den Klang der Mittagsglocke im Ohr - hell, weittragend - die der Aufseher mit dem Klöppel bearbeitete. Die Kühe wurden von 18 Schweizern - so nannte man die Schweizer -, die einen einbeinigen Schemel umgebunden hatten, morgens und abends gemolken - für mich faszinierend zu sehen, wie die Schweizer nach einer leer gemolkenen Kuh aufstanden und mit dem festgebundenen Schemel, dessen eines Bein wie ein Schwanz sich nach hinten reckte, zur nächsten stapften. Es gab Vollblüter zum Reiten, zum Jagen und zum Ziehen der zweirädrigen Dogkarts und der großen Kutschen, mit denen man zum Bahnhof fuhr wenn mal wieder eine Berlin Reise anstand, oder für Besuche in der Gegend. Im Winter in dicke Felldecken eingemummelt und mit verdeckten Kohlenpfannen gewärmt. Sommers gab es oft Fahrten zur Spree oder anderen Picknickplätzen - wo das Gesinde schon alles mit Decken, Geschirr, Essen und Trinken vorbereitet hatte. Kaltblüter arbeiteten auf den Feldern, zogen Wagen, Heuwender, Eggen, Walzen und leichte Pflüge. Die riesigen, aus England importierten Mehrscharpflüge wurden erst von 10 sic! Ochsengespannen gezogen, bis später dann die ersten Raupenschlepper kamen. Damals hat sich dann der Name Schlepper für alle Trecker eingebürgert. Damit man auch hier nicht auf die Annehmlichkeiten der Stadt verzichten mußte, gab es einen tief in die Erde gegrabenen Eiskeller, der das ganze Jahr über große, vom See ausgestochene Eisblöcke bewahrte, mit deren Hilfe zu besonderen Gelegenheiten Eis-Sorbet gerührt wurde.
Was es mit der Essensbereitung auf sich hatte, habe ich eigentlich nie begriffen. Meine Mutter durfte als junges Mädchen nie in der Küche sein , 'tat man nicht', lernte so auch nichts, was ihr später auf der Flucht doch sehr fehlte. Aber warum ich nicht in der Küche zuschauen durfte, mich von den Mädchen verwöhnen lassen durfte, ihren Liedern zuhören durfte - "Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind ....." habe ich nicht klären können. Ich bemerkte nur damals eine ziemliche Aufregung meiner Großmutter und tagelanges Getuschel. Allein durfte ich auch nicht in den Wald, es könnten ja Zigeuner mich finden und stehlen. Allein durfte ich auch nicht in den Wald, es könnten ja Zigeuner mich finden und stehlen. Zum Essen gab's für die Kinder Breie und Marmeladenbrote - Verwöhnen war bei dem preussischen Pietisten vom Teufel. Abhärten gottgefällig. War man dann erwachsen, kam nur Wild und Geflügel auf den Tisch, der Adel aß kein Rind oder Schwein. Vielleicht damit es immer eine Entschuldigung gab statt sich um die Wirtschaft zu kümmern, ständig zu jagen. Wenn größere Einladungen oder Feste anstanden, mußte als zusätzlicher Diener beim Essen der Kutscher antreten - eine Anekdote erzählt, daß dieser beim Auftragen eines riesigen gestürzten Wackelpeters dessen Wackeln und eventuell zu Boden Rutschens mit den Worten "oha, oha brrrrr" zu Verhindern suchte. Natürlich gab es ab und an auch nicht eingeladenen Besuch - Meine Großmutter zog dann den Gotha zu Rate und bei negativer Auskunft mußte der Besuch wieder abziehen.

Den süßen, etwas muffigen Geschmack von warmem Holundersaft spüre ich heute noch auf der Zunge - Halsweh, Husten, Schnupfen, erzeugten große Mengen davon. Viel später in der Schulzeit war ich oft krank - es gab zwar keinen Holundersaft mehr, aber dafür auch viel weniger Klassenarbeiten.

Meine Urgroßmutter war Hofdame am Hof des Kaisers Wilhelm II. Meine Großmutter hatte einen Herrn von Arnim geheiratet - auch ein zweiter Sohn - und mit ihm 3 Kinder gezeugt. Meine Tante Esther, mein Onkel Diedel und meine Mutter.

Auch im Herrenhaus war etwas moderne Technik eingezogen. Geld war durch die Verkäufe von Holz für die Abstützung der Gänge in Kohlengruben reichlich. Die Landwirtschaft dagegen war im Ergebnis immer unsicher. Meine Mutter hörte ihren Vater im Sommer oft zu seiner Frau sagen, und du wirst sehen, der Regen kommt nicht über die Spree, was eine schlechte Ernte bedeutete. Der Absatzmarkt schwankte so sehr, daß das Getreide oft 'auf dem Halm' an Spekulanten verkauft werden mußte, um nur eine geringe Sicherheit zum Überleben zu haben. Erst im dritten Reich wurde ein guter, fester Ankaufspreis garantiert - na ja - so wurden die Junker überzeugt - denn das Auskommen betraf ja nicht nur sie, sondern alle Mitarbeiter mit Familien auf dem Gut für die man sich zutiefst verantwortlich fühlte.
Neben der Beleuchtung durch Gas - später sogar elektrisch - war das Prunkstück ein großer schwarzer Horch, den der Kutscher unter großen Mühen fahren lernte. Man machte Besuche, Auflüge und gelegentlich die abenteuerliche Fahrt nach Berlin. Mindestens zweimal im Jahr. Im November, um in allen Kaufhäusern nach Geschenken zu stöbern - für alle - so auch Gesinde und Landarbeiter mit Familien - eine langwierige Prozedur. Genauestens versuchte sie jedem gerecht zu werden, ob Köchin oder Dienstmädchen, ob Treckerfahrer oder Verwalter, ob Schweizer oder Pferdeknecht. Der Kutscher erzählte später mit leuchtenden Augen oft von diesen Festen, wo im hohen Saal ein mächtiger Weihnachtsbaum stand - über und über mit Lametta, Kerzen und Glas behängt. Allein das einzeln Anbringen des Lamettas beschäftigte mehrere Leute für Tage. Am Heiligabend versammelten sich alle, es glänzte und glitzerte überall, Großvater laß die Weihnachtsgeschichte, die wunderschönen Choräle Paul Gerhards habe ich heute noch im Ohr und dann kam die Bescherung - jeder suchte seinen Platz mit Namensschild und Geschenken. Abschluß war die feierliche Christmette in der Dorfkirche. Das Weihnachstfest und im Herbst Erntedankfeiern zementierten, heute kaum mehr vorstellbar, die Beziehungen zwischen Herrschaft und Abhängigen. Ein alter Bauer, den ich 1990 beim Besuch meiner Heimat des frühen Kindseins sprach erinnerte nur die schöne Zeit auf dem Gut mit der Herrschaft, fand alles was danach passierte nur ärgerlich und widerlich und haßte die nachfolgende Freiheit, die pseudo Freiheit der DDR. Er zeigte mir dann auch das Grab meines Großvaters, der als Junker einfach nur verscharrt wurde - auch ein Grabstein war verboten. Die Menschen im Dorf hatten dieses Grab jahrzehntelang gepflegt. So konnte ich endlich einen Grabstein setzen für ihn, seine Frau und sein Kind. Das war für mich sehr schmerzhaft und tragisch - denn als bei Kriegsende die Russen immer näher rückten floh meine Mutter mit ihren Kindern aus Berlin und besuchte noch einmal ihren Vater in Rittgarten. Er wollte sein Land nicht verlassen, zu tief verbunden war er in seiner Verantwortung mit Gut, Land und Dorf. Es war ja auch in den letzten Kriegszeiten verboten. Gutsbesitzer die flohen wurden sofort aufgehängt. Auch der dringende Wunsch meiner Mutter, ihr auf der Flucht doch wenigstens seine jetzt elfjährige Tochter mit zu geben, wurde abgeschlagen. Als dann die Russen nur noch wenige Stunden entfernt waren, hat er Tochter, Frau und sich vergiftet. Der Bruder seiner neuen Frau, Henning von Treskow, einer der Hauptbeteiligten am Attentat des 20. Juli, war schon gehenkt. In meinem Lebensentwurf, der immer mit der intensiven Frage, woher wir kommen, verknüpft war, fühle ich hier eine besondere Tragik. Viele der Versammlungen der Attentäter fanden auf dem Gut meines Großvaters statt - natürlich ohne sein Wissen. Als das Attentat aufflog, mußte mein Großvater nach Moabit, dem Gefängnis in Berlin und erst nach 6 Monaten wurde festgestellt, daß er wohl nichts gewußt hatte und er kam frei als gebrochener Mann.
Mit 14 Jahren eingestellt träumte der alte Landarbeiter noch heute von dem Menschlichen, der guten Behandlung, den Festen. Das Funktionieren dieser Beziehungen ist heute kaum mehr vorstellbar, doch es klappte. Geld gab es kaum, das Überleben sicherten Deputate an Holz, Getreide, Rüben und wahrscheinlich auch Kartoffelschnaps, der auf vielen Gütern reichlich hergestellt wurde. Diese Strukturen lebten von Traditionen wo jeder seine feste Aufgaben hatte. Die unten arbeiteten und die oben trugen die Verantwortung und Fürsorge. Wenn jemand im Dorf krank war, schickte meine Großmutter einen Arzt und machte mit kleinen Geschenken und Mitgefühl Besuche. Das war man sich ohne zu überlegen der christlichen Überzeugung schuldig. Sicher gab es auch schlimme Herren, doch das war nicht die Regel. Die Tragik liegt eigentlich darin, daß die neue Zeit des Jahrhundert im Sozialen, in der Politik, in der individuellen Freiheit vom Adel nicht erkannt wurde. So wurde man aus falsch verstandener Sorge um Landwirtschaft, Gut und Dorf NSDAP Mitglied oder Sympathisant und ging zu Grunde weil die tradierten Werte sich ins Gegenteil verkehrten.
Die zweite Fahrt war zur Ballsaison, die gleich nach Sylvester begann und erst mit Aschermittwoch aufhörte. Neben den Bällen vergnügte man sich in Theater, Oper und Ballett. Das Ballet war wohl für den älteren Bruder meines Großvaters eine zu große Versuchung gewesen - er 'trieb sich' mit Ballettratten rum statt sein ererbtes Gut zu bewirtschaften. Das war so genierlich im Familienverband, daß ich erst mit 35 davon erfuhr! Für meinen Großvater ein Glücksfall, der nun nach der Scheidung von seiner vermögenden Frau das elterliche Gut übernehmen sollte und tat.

Zurück zur Urgroßmutter - die Riebeckschen Montanwerke entwickelten sich rasant - daraus entstanden dann die IG Farben, aus denen dann Bayer, BASF und Höchst wurden. Nach Kriegende boten die IG Farben Nachfolger 3 % des ehemaligen Wertes als Entschädigung an - meine Großmutter - reich an Aktien - folgte jedoch einem Anwalt, der 10 % forderte und verlor. Damit ging auch der Rest des Vermögens den Bach hinunter. Bargeld, Schmuck und Silber hatte meiner Großmutter auf einer letzten Fahrt mit dem Horch nach Berlin in einem Banksafe deponiert - nach der Teilung lag die Bankfiliale leider im Ostteil und so war alles weg.

Ich habe jetzt mit der Flucht etwas vorgegriffen. Gehen wir zurück zu meiner Kindheit, soweit ich sie noch erinnern kann. Wir lebten in Frohnau, einem Vorort Berlins. Als Chefredakteur mußte mein Vater natürlich den letzten Umbruch - die Seitenzusammenstellung vor Druck - bis Mitternacht begleiten - weiter gab es Empfänge, Einladungen, Oper, Konzerte. Aus den Erzählungen meiner Geschwister entnehme ich, das ich die meiste Zeit von einer - oft nicht sehr freundlichen Kinderschwester betreut wurde. Drei Erinnerungen an meine Mutter zu dieser Zeit sind geblieben - eine wunderhübsche, sanft geschminkte und herrlich duftende Frau beugt sich über mein Bettchen, gab mir den Gutenachtkuß und verschwand - meine Mutter bringt den herrlichen warmen Holundersaft - wir sitzen alle auf dem Bett meiner Mutter und öffnen ein Lebensmittelpaket, das mein Vater - jetzt wieder Kapitän in der Marine, geschickt hatte. Es enthielt unter anderem Ölsardinen, die ich heute noch mag. Meine Schwester aß leider zu viel davon und ihr wurde kotzübel.

7 comments:

Doktorand said...

Sehr geehrter Lebensader,

durch eine Google-Suche nach Ihrem Herrn Großvater bin ich auf Ihr Blog gestoßen.
Ich arbeite derzeit an meiner Doktorarbeit, in der Ihr Herr Großvater eine zentrale Rolle spielt. Ich würde daher gerne (in weniger öffentlicher Form) Kontakt mit Ihnen aufnehmen und bitte Sie herzlich, mir eine kurze Mail mit Ihren Kontaktdaten an meine Adresse scheffczyk[at]uni-ffo.de zu senden. Für die ungewöhnliche Art der Kontaktaufnahme bitte ich um Entschuldigung.
Mit freundlichen Grüßen,

Fabian Scheffczyk
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

Unknown said...

Sehr geehrter Herr Silex, meine Mutter hat vor langen Jahren für Ihre Eltern in Frohnau im Haus im Ludolfinger Weg gearbeitet und so habe auch ich Ihre Eltern kennengelernt und später in Köln mehrmals besucht. Meine Mutter hat mir heute einen kleinen Band von Fotografien/Ansichtskarten (Kölner Parks) mit einem kleinen Anschreiben Ihrer Mutter überlassen und so bin ich bei der Suche im Internet auf dieses Blog gestoßen. Viele Grüße aus Berlin, Ihr Matthias Winkler

Unknown said...

Kennen Sie die Geschichte der großen Spiegel aus dem Ragower Schloss? Ein paar Maurer öffneten die Wand über dem Eingang des Schlosses, damit sie hindurchpassten. Bevor die Russen da waren, versteckte man dieses einzige Gut, das geblieben war, nachdem die Familie verschwunden war mit ihrem Reichtum. Denn der Sohn war Offizier und wusste Bescheid.

Unser Familienzweig, die mütterliche Linie meines Vaters, war in Merz, dem nächsten Dorf zu Ragow, ansässig geworden, nachdem man im April 1939 Tauerzig im heutigen Polen verlassen hatte und so vor dem Krieg noch über die Oder kam. Auch Merz gehörte den von Arnims.

Die Geschichte, die es zu erzählen gilt, handelt von meiner Großmutter Elsbeth Kraft, die 1939/40 im Ragower Schloss angestellt war. Vielmehr jedoch handelt das folgende von ihrer Schwester, Grete Kraft, die längere Zeit, bis zur Auflösung der Verhältnisse im Ragower Schloss 1944 daselbst tätig war. Sie lernte dort mit 18 Jahren selbständig kochen.

Der Verwalter des Ragower Gutes wurde auf sie aufmerksam: „Und da fehlte in Ragow ne Haushilfe und da hat der Berges, hieß der, der Chef von mir da, hat dann gefragt, hat wohl mitjekricht, dass ich zu Hause bin und hat dann gesagt, dass ich da anfang könnte. Dadurch bin ich dahin gekomm. Ich hatte sonst für, in Merz keine Verbindung mit und in Ragow is das erst entstandn mein, also Ragow war mir mehr zu Hause als Merz. In Merz hab ich mich nie heimisch gefühlt“.
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Unknown said...

Das Schloss machte auf mich, der anfing sich für die Geschichte seiner Familie zu interessieren, außer vielleicht die innere große Wendetreppe, keinen zu großen Eindruck mehr, eher der Turm daneben. Eindruck machte aber jenes merkwürdige hängende, verglaste Flurstück als Verbindungselement zwischen Schloss und backsteinernen Wirtschaftshaus daneben. Ich fragte mich, welcher Verkehr dort wohl herrschte? Wer wechselte dort entlang die Seiten, wer tauschte sich dort aus. Ich fragte Grete. Sie vermutet, dass dieses Element entstand, als die Frau von Arnim auf den Verwalter des Gutes angewiesen war, der ja im Wirtschaftsgebäude eine Wohnung besaß. „Wir wussten nur, dass dieser Übergang da is und wenn ich das jetz so überlege, isser so entstandn, dass die Gnädige Frau ja nun nich alleine, die stand ja nun, nach der Scheidung, mit diesen ganzen Gutsverhältnissen da alleine. Der Sohn war noch n bischen zu jung. Und der is dann gleich irgndwie ausgebildet wordn, so ne Offiziersschule oder so was, wegn höherer Ausbildung und. Und brauchte jemandn, der sich darum kümmern konnte. Und bei dem ich hier im Haushalt war, der war auch, hatte wohl auch ne wirtschaftliche Grundausbildung und alles und er hat eigntlich die Gnädige Frau aufmerksam, darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Gatte versucht, dass Gut in sein Eigentum rüberzuziehn. Und dann hat er sie, und dadurch hat er dann die Wirtschaftsvollmacht gekricht erstmal, weil das ja immer noch ihr Besitz war. Und so dieses, dieses, es gehört mir und der Mann will sich jetz in seine Reichtümer da hier das Ragower Schloss auch noch einheimsen. Und dadurch wollte se die Verbindung habm, so seh ich das. Ich kann nich mal sagn, dass es in Wirklichkeit, aber warum…“

Elsbeth, meine Oma und die ältere Schwester von Grete, arbeitete direkt im Schloss. Die Gnädige Frau „hat sich mal herabgelassen“, so erzählt Grete, hielt bei der Mutter von Elsbeth mit der Kutsche an und sagte, Elsbeth sei sehr schön und sehr stolz und das sei nicht gut. Es gibt ein Photo von Elsbeth aus dem Jahre Zweiundvierzig direkt vor dem Schloss, vor dem Balkon mit den kleinen, bauchigen Säulen als Geländerzier und mit einer an dem Pfeiler aufrankenden Pflanze. Elsbeth sitzt in einem Korbstuhl, lässig zurückgelehnt, die Arme weit geöffnet. Sie trägt ein blumiges, nur bis zu den Knien reichendes Kleid. Eigentlich sollte das Unterwürfige anerzogen werden, ‚immer schön ducken’ und die Zöpfe nicht seitlich binden. Der Gegensatz Arbeiterkind – Selbstsicherheit war für Elsbeth schwer. Bald verließ sie das Schloss, was die Gnädige Frau nicht verwehren konnte. Sie ging zum Reichsarbeitsdienst und hoffte dort, weiter steigen zu können. Sie tötete sich selbst in den achtziger Jahren.
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Unknown said...

Grete, die Schwester meiner Oma und drei Jahre jünger, war selber nicht im Schloss beschäftigt, sondern daneben, im Wirtschaftsgebäude, wo sie für die Verwalterfamilie und die Arbeiter mitgekocht hat. Trotzdem erinnert sie sich an die Köchin im Schloss, jene Frau Gärtner und erzählt: „…die Köchin, die kam sich ja wie n Herrgott selber da im Schloss vor. Die hatte dann da das Wort über die Mädels… Hat ja bloß noch für die Gnädige Frau gekocht oder wenn se Besuch hatte. Fräulein Gärtner, die hat genau gewusst, wer dich abnd nach Hause bringt und die hat genau gewusst dies und jenes. Alles Quatsch. Naja wie de so als junger das betrachtest, alles so anders. Fräulein Gärtner war das. Das war die Köchin. Ausgebildete hochstehende Köchin“

„Ich habe hauptsächlich in der Küche beim Verwalter gearbeitet und hab da einje Räume in Ordnung gehalten, dass man die benutzen konnte. Wie der Förster, auch alleinstehend, warn auch vierzehn Zimmerleute, die da noch Essen kriegten aus unsrer Küche und solche, die da untergebracht warn. Oder einer, der wollte noch, der war Inspektor, der wollte noch lernen, als so genannter Lehrling da angestellt, aber die gabs nachher nich mehr, weil ja dann Krieg war. Die wurden alle eingezogen. Der Förster war schon n bischen älter und n bischen ver, behindert war der auch und der is dann noch gebliebm. Ja. Aber dann wurde nachher der Büroangestellte, der wurde dann auch noch eingezogen, dann wurdn ja auch die, nachher ältre eingezogen. Und dann kam von irgendwo ne Frau als Büroangestellte, Sekretärin, und die das dann noch bearbeitet hat“.

Als der Verwalter dann auch zu den Soldaten musste, war Schluss für sie dort. Vorher hatte sich noch einiges verändert. Grete blieb im Haushalt vom Verwalter und „dieses andere Mädchen, die da noch war, die is dann zum Schloss rüber. Und der Verwalter wollte mich behaltn und darum hat er mich, ham se mich gefragt, die Frau Berges, ob ich da bleiben möchte. Sie müssn ein von uns abgebm und müssen, sie müssen rübergebm ins Schloss, sie brauchtn nich mehr zweie. Im Schloss kam doch nun der junge Herr, da gabs doch dann neue… Und wir hier, bei den Berges, da ham wa ja für niemanden mehr gekocht. Es war nich mehr so groß, das war gemütlicher, nich dass er nun weg war, den hättn wir auch noch geschafft (lacht). Nein, jetzt überhaupt. Frau Berges wollte dann zu ihren Eltern und hat den Haushalt aufgelöst. Und die hattn drei Kinder, nun, inzwischen hab ich dann auch viel mit den Kindern zu tun gehabt. Da war auch noch n Kleines. Und dadurch eigntlich vielleicht auch … Kindergarten, hab ich mich in Frankfurt gemeldet, zur DDR-Zeit. Die Frau Berges hat mir wohl dann eine ganz ordentliche Beurteilung geschrieben“.
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Unknown said...

Grete erzählt: „Eines Tages kam die Frau von Arnim in die Wirtschaftsküche und fragte mich nach Frau Berges, da ging ich zur Tür, die nach oben führt und rief: ‚Frau Berges, die Frau von Arnim will sie sprechen’. Dann kam ich zurück in die Küche, und Frau von Arnim sagte, nächste mal möchte ich bitte ‚Gnädige Frau’ sagen, ‚wenn sie mich meinen’. Unter Hitler gingen diese Dinge etwas verloren, was den Arbeitern sympathisch war und was die Adligen merkten“.

Der Verwalter in Ragow wurde eingezogen und Grete war arbeitslos. Sie wechselte dann nach Beeskow in eine Stellung im Haushalt. Der Mann dort, Direktor der Landwirtschaftsschule, wurde nicht mehr eingezogen. Der wurde später erschossen, von den Russen. Für Grete begann von dort die lange Flucht zu Fuß, vorm Russen fort, Richtung Westen.



Die Spiegel gibt es heute noch im ‚Dorfkrug’ zu Ragow. Da hängt auch ein Bild vom Ragower Schlosspark, angefertigt von einem Ragower Kunstmaler. Ein Paar steht in der noch heute schönen Allee. Übrigens durften schon früher auch die Kinder im Schlosspark spielen, unter der Bedingung, dass sie sich benehmen.

Grete Karras, geborene Kraft, starb am 5. Oktober 2009 im Alter von 85 Jahren. Die Zeit in Ragow und am Ragower Schloss war ihre Jugend, die Zeit des ersten Freundes, der in Russland fallen sollte, und der ersten eigenständigen Schritte, die ihr späteres Leben bestimmten. Sie wird am 24. Oktober in Grunow unweit von Ragow beigesetzt.


www.bastianschlickeisen.net
Berlin

Unknown said...

lieber bastian -
danke für die ausführlichen beiträge auf meinem blog - ihre website hat mir SEHR gefallen - allein die sprache zu hören - ich suchte nur die adresse - war sehr schön - in dieser form teile ich die negativen gedanken zum web nicht - ich bin seit 1998 dran, und habe viel schönes erlebt - ohne wäre auch OK, genauso wie ohne all das zeugs der heutigen zeit - aber wenn es nicht mehr zurückzudrehen ist, könnte man ja auch die zukünftigen möglichkeiten ausloten -
später mehr -
herzliche grüße
christoph silex