Monday, September 03, 2007

12.5.1944

12.5.1944
Der Zug hielt an. Es war später Nachmittag. Ein kleiner Bahnhof in der Uckermark. Die Mutter nahm die Koffer und reichte sie nach draußen. Es war zu dieser Zeit immer irgend jemand da - Der Bahnhofsvorsteher, der Kutscher des Gutes, Ein Tagelöhner, der sie als Adelstochter erkannte und sofort und freundlich half. Sie nahm Pierre auf den Arm und stieg aus. Das kleine blondgelockte Kind lächelte und schaute noch ein mal zurück auf die Waggontüre, jedes Abteil hatte seinen eigenen Ausgang und der Schaffner konnte sich vom einen zum anderen während der Fahrt nur auf Laufbrettern draußen bewegen. Die riesigen Räder der Dampflokomotive - mehr als doppelt so hoch wie Pierre - waren faszinierend und unheimlich. Besonders wenn sie beim Anfahren - zugleich mit dem wilden tschumm -- tschumm - tschumttschumm der Dampfkolben erst einmal durchrutschten um dann endlich den Zug vorwärts zu bewegen. Die Lok - schwarz, riesig, dampfend, pfeifend, dieses unvergessliche TUT - TUT - TUT unterschiedlich langgezogen. Unzählige Albträume - die Lokomotiven folgen mir - legen sich die Schienen selbst dahin wo sie fahren wollen um mich zu töten - auf den Straßen, Wegen, hinein ins Haus - die Treppen hinauf - bis auf den Balkon im ersten Stock - wo es keinen Ausweg mehr gab um Wegzulaufen, wo aber endlich doch - bevor ALLES zu Ende war - das Kind zitternd aufwachte. Genauso zitternd, wie es in seinem Gitterbettchen stand, wenn in Berlin die Luftschutzsirenen vor einem neuen Angriff der Spitfires heulten - ein beklemmendes Zittern, daß bei jedem Sirenengeheul - "Des Teufels General" im Zoopalast Berlin 1958, oder die regelmäßige Überprüfung der Kölner Sirenen 1968 des Kindes, nicht mehr Kindes Brust mit beklemmenden Faßreifen pressten.
Der Kutscher nahm die Koffer, die Mutter nahm Pierre. Die Kutsche, mit zwei Rappen bespannt, vierrädrig, geschlossen, - man konnte allerdings wie im Zug mit einem Lederriemen die Fenster links und recht herunterlassen - fuhr an. Die Strasse, in der Mitte schon Asphalt, auf einer Seite Sandweg für die Reiter, gesäumt von Alleebäumen, welche in Brandenburg, wie Pierre später erfuhr, zu 80 % von seinem Urgroßvater im Auftrag Linnés gepflanzt waren - rollte mit dem sanften Quietschen und Knartzen der ledernen Federaufhängung und dem rythmischen, doch unregelmäßigen trapptrapp - trap der Hufe süß, friedlich, einschläfernd dahin.
Die Alleebäume blieben zurück, weite Felder rechts und links - etwas Getreide, soweit es der karge Boden zuließ - sonst Kartoffeln, Kartoffeln, Kartoffeln - der karge märkische Sandboden mit der geringen Bodenzahl von 25 - 32 Punkten ließ wenig anderes zu, war aber für den fruchtigen lieblichen Geschmack genau richtig - solche Kartoffeln konnten im reichen Boden des Rheinlandes nie wachsen. Außerdem konnte man bestens Schnaps damit herstellen, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Gutes. Der Schnaps und die Nazis retteten viele Güter vor dem Bankrott. Der Schnaps, weil er für Arbeit und Einkommen sorgte, viel kleine Bahnnebenstrecken finanzierte einschließlich der Ballsaison in Berlin, im Hotel Adlon - die wunderbaren Bälle, die Oper, das Ballett - dort war auch, wie man nur leisest flüsterte der Ältere Bruder mit einer Ballettratte versackt, und mußte die Güter an den Jüngeren abgeben - die Nazis, weil erst im Dritten Reich der Staat eine Ankaufspreisgarantie für die Früchte des Feldes festsetzten, und die Frucht nicht wie in den 20er Jahren an Spekulanten "auf dem Halm" verkauft werden mußte. Wenn Dann die Ernte schlecht war, verlor man den ganzen Besitzt. Von Pierres Großvater ist überliefert, daß er zu seiner ersten Frau imSommer ständig sagte: " und du wirst sehen, das Gewitter kommt nicht über die Spree", was bedeutete, daß schon wieder kein Regen viel, und das Getreide vertrocknete, und die eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht eingehalten werden konnten. Ende eines weiteren adligen Gutes.
Wer ohne Arg werfe den ersten Stein. Luxus oben, Kargheit unten, aber der Luxus war ohne die pietistische preussisch geprägte Verantwortung nicht denkbar. Wenigstens verhungerten die "Leute", so der Begriff, mit dem man die Tagelöhner, Dorfbewohner, Kätner oder wie sie auch mit modernem Sozialterminus bezeichnet wurden, nicht wie die Arbeiter im Berlin der 20er Jahre, geschildert so schön von dem unerträglichen Schreiber Fallada in "Kleiner Mann was nun". Man sorgte für die Leute, und im Krankheitsfall kümmerte sich die Herrin persönlich um Hilfe, Ärtzte, Kinderversorgung, Nahrung. Der riesige Horch parkte plötzlich vor der Tür und entließ Herrin, Dienstmädchen, Krankenschwester und Körbe voll Essen. Ein Bauer, den Pierre 1990 traf, behauptete mit Tränen in den Augen, daß es die schönste Zeit in seinem Leben war, als er mit 14 vom Gutsherrn als Lehrling eingestellt wurde. Die schönen Sommer und Weihnachtsfeste, der stattliche Herr in Reitstiefeln, der nie ungerecht war, die gemeinsamen Kirchbesuche, wo die schönen Choräle gesungen wurden - besonders Paul Gerhards nun danken alle Gott oder oh Haupt voll Blut und Wunden - alles was danach kam, die wiederliche DDR Verwaltung, war nur noch schrecklich. Das Miteinander von Herr und Knecht ging so weit, daß diese Bauern des Herrn Grab, wo auch Tochter und Frau von den Sowjets ohne Namensschild verscharrt worden waren, denn Junker waren ja vom Teufel, 45 lange Jahre pflegten, so daß Pierre - 1090 beim einen Besuch der "Heimat", nach der er sich ein leben lang gesehnt hatte, nun endlich einen Stein setzen konnte.
Für Pierre war das alles, im weiteren Verlauf seines Lebens, der zuallererst von der ewigen Frage bestimmt war - woher komme ich, wer bin ich, wo gehe ich hin, schon bei der ersten Frage erst nach und nach und sehr schmerzhaft, Stück für Stück eine Antwort zu erhalten. Erst 33 Jahre später erfuhr er, daß sein Großvater kurz vor Einmarsch der Russen sein Kind, Seine Frau und sich vergiftet hatte. Noch später tauchten dann Nachrichten auf, welche die so oft gehörten Worte "man habe es nicht gewußt" ad absurdum führten. Als Landeshauptmann, für die Verwaltung des Kreises zuständig, muß er von den Euthanasieprogrammen in den ihm unterstellten Krankenhäusern gewußt haben. Was er allerdings nicht wußte, ist die Tatsache, daß auf seinem Gut häufige Besprechungen der Attentäter des 20 Juli stattfanden, was ihm 6 Monate Verdachtshaft in Berlin Moabit einbrachte, die er als "unschuldiger" aber gebrochener Mann verließ. Pierre hatte noch ein vages Bild von schlanken hochgewachsenen Männern in ideal passenden Uniformen.
Am nächsten Morgen lief Pierre, wie von vorigen Besuchen gewohnt, sofort in die Ställe um die Tiere, Kühe, Ochsen, Schweine, Pferde zu riechen, zu begrüßen, ihnen beim Fressen zu zuschauen, den wunderbaren Geruch des Mistes einzusaugen. Dann fand er bald den alten Kutscher Karl, der - zu alt um die Herrschaft elegant zu kutschieren, jetzt die Aufgabe hatte, mit 2 riesigen, langsamen Kaltblütern irgendwelche Transporte zu machen. Mal durfte Pierre auf dem breiten Rücken eines der Pferde sitzen, wenn eine Egge zum Feld gebracht wurde, mal saß er auf der Schleppe, einem breiten langen Schlitten, der zum Transport in schlechtem Gelände, auch im Sommer, benutzt wurde, um einen Eber, den der Herr am Ende des Sees in sumpfigem Gelände geschossen hatte, zum Gut zurückzubringen, wobei er mit Vergnügen auf den Schultern des Ebers saß - war ja auch viel bequemer als auf den harten Holzbohlen der Schleppe.
Abends saß man auf der Terrasse zum See - die Erwachsenen plauderten, die große Kastanie wurde unheimlicher, der Himmel dunkler, Käuzchen riefen mit fremden, unirdischen Lauten.
Nachts kamen wieder die Ungeheuer. Riesige, ohrenbetäubend laut stampfende Lokomotiven, die sich ihre Schienen selbst legten um Pierre zu verfolgen.
Schweißgebadet wachte Pierre auf, eine Erkältung. Sie löste sofort - nein nicht einen Artztbesuch, sonder große Mengen von warmem Holundersaft aus, der dem Kinde in halbwachem Zustand eingeflöst wurde - dieser erdig - himmlische Duft und der märkische Geschmack blieben immer in Erinnerung. Das war so "göttlich, daß Pierre oft alles tat um erkältet zu sein, sich in das eiskalte Wasser des Brunnens gleiten zu lassen, Schals und Mützen draussen sofort zu verstecken - oder einfach ständig zu hüsteln.

Einmal kam sein Vater in Kapitänsuniform zu Besuch. Pierre durfte seine Füße auf die Stiefel stellen, und mit Geschick, während der Vater rückwärts lief, versuchen mit zu laufen - das klappte bald und - höchstes der Gefühle - nun lief der Vater vorwärts und Pierre rückwärts - sehr schwierig!

Im ersten Weltkrieg Kommandant eines Minensuchbootes, im 2. Eines Minenlegers, hatte sein Vater zuletzt Flüchtlinge aus Königsberg evakuiert, aber - vielleicht erfahrener als der Kapitän der Gustlof eine andere Route gewählt, die ihn vor der alliierten Bombardierung bewahrte, und Kindertaufen und Seebestattungen in Frieden möglich machten.

1 comment:

Unknown said...

Lieber Christoph,

schön, dass Sie sich melden. Natürlich haben Sie recht: es geht mir ja auch darum, die Möglichkeiten des Internets auszuloten. Deshalb habe ich versucht, mal ganz auf Stimme und Hören zu gehen, und das Auge rauszulassen. Eine Totalkritik am Anfang aber ist immer ganz gut, um sich den Weg freizuschaufeln...

Ich bin früher viel in Ragow herumgelaufen, der Geschichte meiner Großtante wegen. Nun habe ich gesehen, dass das Wirtschaftsgebäude neben dem Schloss saniert wird. Es stehen Zäune drum, auch dem Schloss darf man sich nicht mehr nähern. Der Park, der Eiskeller, ... bleibt.


Ich grüße Sie ganz herzlich,
Bastian